Mit Knochen hören

Hörverlust ist ein großes medizinisches und sozioökonomisches Problem. Mehr als 20 % der Weltbevölkerung leidet an einer leichten bis vollständigen Schwerhörigkeit. Beschädigungen oder Verformungen der Ge­hörknöchelchen, den kleinsten Knochen im menschlichen Körper, führen zu einer Schallleitungsschwerhörigkeit.Eine Vielzahl an Patient:innen mit genetischen Knochenerkrankungen, einschließlich solcher mit Störungen des Mineralstoffwechsels oder der Kollagenqualitat leidet an einer früh einsetzenden Schallleitungsschwerhörigkeit.

Ziel dieses Forschungsprojektes ist es, die Auswirkungen von Genvarianten auf die Gehörknöchelchen und das Hörvermögen zu entschlüsseln und so das Verständnis des auftretenden Hörverlusts bei Patient:innen mit genetischen Knochenerkrankungen zu verbessern.

Mausmodelle sind nützlich, um die Auswirkungen von Genvarianten auf die Knochen­qualität zu beurteilen, allerdings haben nur wenige Studien diese Auswirkungen auf die Gehör­knöchelchen sowie die Schallweiterleitung im Mittelohr analysiert. In dem aktuellen Kooperationsprojekt der Orthopadie, Osteologie und Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde untersuchen UKE-Wissenschaftler:innen daher die Gehörknöchelchen von Mauslinien mit verschiedenen Genvarianten, welche die genetischen Knochen­erkrankungen Phosphat­diabetes (X-linked Hypophosphatämie, XLH) und Glasknochen­­erkrankung (Osteogenesis imperfecta, OI) rekapitulieren. Die Analyse umfasst hochauflösende Bildgebungs­verfahren wie Mikro-CT, Histologie, quantitative Raster­elektronenmikroskopie und Fourier-Transform-Infrarotspektrometrie. Die Unter­suchungen werden durch systematische Hörtests der Patient:innen mit XLH, OL und anderen genetischen Skelett­erkrankungen ergänzt. Ebenso wird die Wirksamkeit therapeutischer Interventionen bei Mäusen untersucht.

In Vorarbeiten konnten die Wissenschaftler:innen bereits demonstrieren, dass in menschlichen Gehör­knöchelchen, sobald sie kurz nach der Geburt ihre endgültige Grösse erreicht haben, vorzeitige Alterungs­prozesse innerhalb der in die Knochen­matrix eingebetteten Osteozyten auftreten. Der Verlust an Osteozyten erfolgt in den Gehör­­knöchelchen schneller und stärker als in den anderen Knochen des menschlichen Organismus. Neben der Abnahme der Osteozyten­parameter lässt sich mithilfe der quantitativen Rasterelektronen­mikroskopie ein alters­abhängiger Anstieg der Knochen­mineralisation in den Gehör­knöchelchen nachweisen, was zu einer sehr hohen Matrix­mineralisierung im Vergleich zu anderen Knochen führt. Das Forscher­team geht davon aus, dass das Fehlen mechanischer Reize (abgesehen von Vibrationen) zu einer geringeren Knochen­­­umbaugeschwindigkeit mit konsekutivem Verlust an Osteozyten und Hyper­mineralisation führt. Die hohe Matrix­­mineralisation unterstützt moglicherweise die Hörfähigkeit, da ein hoherer Mineralgehalt zu einem härteren Material führt, das besser geeignet ist, hochfrequente Töne durch das Mittelohr zu übertragen.

Die gewonnenen Erkenntnisse über die frühen zellulären Veränderungen in den Gehör­knöchelchen legen nahe, dass es wichtig ist, Patienten mit Schallleitungs­schwerhörigkeit so früh wie möglich zu behandeln.

Mikro-CT Untersuchung menschlicher Gehörknöchelchen.
Rasterelektronenmikroskopie des menschlichen Hammers (Malleus) zur Evaluation der Mineralisations- distribution.
Schwere Hypomineralisation sowie Hörverlust im Hyp-Mausmodell der XLH.